Die Lebensgeschichte der Anna Prath aus Deutsch Kaltenbrunn beginnt mit einer bedrückenden Erzählung, die wohl zu dieser Zeit nicht außergewöhnlich war:
„Laut dem Bericht meiner Großmutter hat mich meine Mutter bald nach meiner Geburt im November 1908 ihr überlassen und ist nach Wien abgereist. Als ich acht Jahre alt war, hörte ich das erste Mal, dass ich eine andere Mutter habe. Ich war der Meinung, dass meine Tante, die mich gleich wie ihre Kinder behandelte und mir eine gute Mutter war und die ich ganz selbstverständlich ‚Mutter‘ nannte, auch meine Mutter sei. Ich war wie vom Schlag getroffen, dass dieses nicht wahr sei.
Die Großmutter war Arbeiterin in der Tabakfabrik Fürstenfeld und ebenso die Tante. Der Onkel arbeitete in der Landwirtschaft. Er und der Großvater versorgten die Landwirtschaft.
Meine Großmutter, die bei meiner Geburt noch in der Tabakfabrik in Fürstenfeld arbeitete, übergab mich einer Kleinbäuerin in Pflege, die der Großmutter bezüglich der Pflege das schönste Versprechen gab, aber nach Aussagen eines Nachbarn sehr nachlässig war. Der Nachbar hat die Frau, die mich als Kleinkind ins Feld mitnahm und mich auf eine Decke auf die Wiese oder am Ackerrand hinlegte, bis sie ihre Feldarbeit beendet hatte, auf die Vernachlässigung aufmerksam gemacht. Ich war den Fliegen und den Ameisen ausgesetzt. Sogar im leichten Nieselregen soll ich auf dem Boden gelegen sein. Auf den Ruf des Nachbarn, dass das Kind ja schon durchnässt sei, gab die Frau die Antwort: ‚Ich habe ja einen Schirm darüber gestülpt.” Der Wind aber hatte ihn längst ins nächste Gebüsch verweht. […]‘ Meine Großmutter ging dann, als man ihr von der Vernachlässigung berichtete, in Pension und holte mich heim, wo auch die Tante lebte.“
(Rosemarie Feistritzer (Hrsg.) Freud´und Leid an Lafnitz und Feistritz. Die Lebensgeschichte der Anna Prath, geb. Hartl. Gösing 2011 S. 13)
Anna Prath‘s Schicksal war kein Einzelfall, zu Beginn des 20 Jahrhunderts waren Fälle wie diese nichts Ungewöhnliches. Oftmals musste ein Kind von Verwandten, Bekannten oder einer kirchlichen wie auch staatlichen Organisation großgezogen werden. Doch welche Auslöser waren für solche Schicksale verantwortlich und wie hat sich die Situation entwickelt?
Vor etwa 100 Jahren waren Schwangerschaft und Geburt eine Überlebensfrage. Medizinische Versorgung war oft nicht geboten und die Mütter- und Säuglingssterblichkeit war dementsprechend hoch. (vgl.: Um 1900 starb in Österreich noch eine von 100 Frauen bei der Geburt, heute nur noch 1 von 25’000.).
Wenn die Mutter bei der Geburt starb, war es oft der Fall, dass der Vater die Schwester der Mutter heiratete und diese das Kind großzog. Genauso wurden auch viele Kinder von der Großmutter oder anderen Verwandten großgezogen, da die Väter neben ihrer Arbeit oft nicht die Zeit hatten, sich um die Kinder zu kümmern.
Häufig waren es aber auch ledige Mütter, welche sich aus Scham oder Not dafür entschieden haben ihr Kind abzugeben. Natürlich kann man die Situation von damals nicht mit heute vergleichen. Ein alleinerziehender Elternteil zu sein ist heutzutage nichts Ungewöhnliches und schon gar nicht etwas wofür man sich schämen müsse. Vor knapp 100 Jahren jedoch waren die Gegebenheiten und Einstellung der Leute andere und es war schier verpönt unverheiratet schwanger zu werden. Ebenso hatten viele Mütter nicht den sozialen Hintergrund und nicht das nötige Kleingeld um sich selbst und ein Kind ernähren zu können.
Die Situation hat sich jedoch sehr zum positiven gewandt. Ärzte begleiten die Geburt und durch medizinische und vor allem hygienische Fortschritte begann die Säuglings- und Müttersterblichkeit bis heute rapide zu sinken. Auch unser Sozialstaat ist mittlerweile soweit ausgereift, dass für jedes Kind bis zu einem gewissen Grad gesorgt ist. So haben Alleinerziehende neben der Arbeit viele Möglichkeiten ihr Kind tagsüber in verschiedenen öffentlichen Betreuungsstäten unterzubringen, ohne Angst haben zu müssen, dass ihr Kind vernachlässigt wird.