Szombathely war lange Zeit der wichtigste Absatzmarkt für landwirtschaftliche und gewerbliche Güter in der ganzen Region. Die neue Grenze zwischen Ungarn und dem neugeschaffenen Burgenland zerschnitt nun nach 1921 diese traditionellen Handelsbeziehungen. In so manchen Dörfern des Südburgenlandes regte sich Unmut über die Situation nach der Grenzziehung. So auch in Rechnitz, der Hochburg der Stiefelmacherzunft, die in der Region auch Tschisenmacher bzw. Csizmenmacher genannt werden.
Die Bezirkshauptmannschaft Oberwart meldete 1923 an die Staatspolizeiabteilung der Burgenländischen Landesregierung in Sauerbrunn: „[…] Von den Gewerbetreibenden ist bloss der Zweig der Tschismenmacher (Anmerkung: Stiefelmacher) ,insbesondere Rechnitz, sehr unzufrieden, da dieser Zweig durch die Lostrennung von Ungarn sein Absatzgebiet, das sich bis Budapest (Märkte) erstreckte, verloren hat. Dieser Kreis von Gewerbetreibenden ist aus diesem Grunde auch eher österreichfeindlich gesinnt.
Die Gast- und Schankwirte sind auch weiterhin über den hohen Weinzoll ungehalten, wieder in erster Linie Rechnitz, weil es sein eigentliches Absatzgebiet durch den Wegfall einzelner Gemeinden verloren hat.“
(Burgenländisches Landesarchiv. Vorfallenheiten. 1923. Bezirk Oberwart. Oktober 1923)
Geiz ist geil – das ist das moderne Schlagwort der Werbeindustrie unserer schnelllebigen Konsumgesellschaft. Folglich auch Quantität statt Qualität? Der Trend zum Billigschuh, der auf dem Müll landet, sobald er kaputt ist?
Uns allen ist klar, dass dieser Slogan massive Auswirkungen auf die heimische Schuhindustrie zur Folge hat.
Bereits in den 20er Jahren haben die Schuhmacher durch die Lostrennung von Ungarn ihren wichtigen Kundenstock eingebüßt. Nun heißt es Nebenerwerb statt Vollbetrieb. Nach dem 2.WK gehen viele Schuhmacherbetriebe aufgrund der Industrialisierung und neuer effizienter Produktionsmethoden an vollautomatischen, computergesteuerten Fertigungsmaschinen in den Konkurs.
In den 1970er Jahren ist Pirmasens das Schuhhandelszentrum im deutschsprachigen Raum, hier befinden sich auch die Zulieferbetriebe für die europäische Schuhindustrie. Für die Angestellten in der Industrie heißt es nun „Gummi und Kleber statt Kork und Leder, es wird nicht mehr am Werktisch geflickt, sondern im Akkord gepickt. Es gibt zwar ein Plus an Arbeitsplätzen, die Fließbandarbeit ohne entsprechender Berufsausbildung erfolgt aber im Niedriglohnsektor – ein Leben ist mit einem solchen Beruf nicht mehr finanzierbar. Die Lösung der Problems: Die Auslagerung der Produktion in Niedriglohnländer wie Spanien, Portugal, Osteuropa. 87% der heimischen Schuhe werden derzeit in Asien produziert. China ist der wichtigste Produzent mit zwei Drittel aller Schuhe, dicht gefolgt von Mexiko, Brasilien und Indien. Praktische Nebenwirkung: Auch die Umweltbelastungen bei Gerbprozessen mit hohen Chromanteilen statt pflanzlicher Gerbung der Lederhäute, Gesundheitsprobleme beim Umgang mit giftigen Klebestoffen und Chemikalien, Probleme mit Überstunden, können bequem „ausgelagert“ werden.
Die technologischen Errungenschaften und die ausgelagerte Produktion haben aber auch eine Kehrseite: Effiziente Arbeitsprozesse und neue Materialien führen in Verbindung mit einer gesteigerten Produktion zu einer breiteren Produktpalette an modischer Vielfalt der Schuhdesigns. Der Rechnitzer Leder-Stiefel wurde von der Kavallerie und den Husaren mit ebenso viel Stolz getragen wie heute der atmungsaktive Sportschuh des Wien-Marathon-Läufers, oder der rosarote Plastik-Stöckelschuh mit Glitzersteinchen des Laufsteg-Modells. Der Zauber der Montur einst und jetzt – und massenhaft kunterbunte Schuhregale. Der Rechnitzer Stiefel ist nach wie vor gefragt als fester Bestandteil der burgenländischen Festtagstracht. Trachten- und Volkstanzgruppen, Blasmusikvereine verlangen Stiefel in Handwerkstradition – gekauft wird aber nicht im einstigen Zentrum der Stiefelmacherzunft Rechnitz, auch nicht mehr in Ungarn, sondern in Rumänien. Die Kunden wollen hohe Qualität – aber billig muss er sein!
Durch die lange politische Forderung nach mehr Hochschulabsolventen, die Industrialisierung, Akkordarbeit und die rückläufigen Geschäftszahlen hat sich das Image des handwerklichen Berufs verschlechtert – und somit auch das der Betriebe. Nach Angaben der Innung in der WKO gibt es im Burgenland nur noch 18 Schuhmacher-Kleinbetriebe. Die Haupttätigkeiten beschränken sich auf Schuhreparaturen und Umarbeitungen. Sind wir bei diesen geringen Arbeitsmarktchancen und monotonen Arbeitsaussichten in der Reparatur immer noch verwundert, dass die Lehrlinge in diesem Berufsfeld im Burgenland an einer Hand – sogar an zwei Fingern abgezählt werden können? Die Politik versucht durch Werbemaßnahmen dieser Tendenz entgegenzuwirken, junge Menschen für eine Ausbildung in einem handwerklichen Beruf zu begeistern und dadurch auch die Chancen besserer Entlohnung zu erhöhen. Wäre es nicht sinnvoller, die Ausbildung insgesamt zu verändern und Möglichkeiten für Fachschwerpunkte auszubauen? Hier gibt es einen Teufelskreislauf: Nicht nur Lehrlinge haben das Problem der geringen Ausbildungsmöglichkeiten – Auch Arbeitgeber finden hierzulande keine Fachkräfte in der Textil- und Lederverarbeitung, für Schnittkonstruktionen, für die Oberteilfertigung, Schaftherstellung und Einlagenherstellung mehr. Lehrlinge beherrschen nach der Absolvierung der Berufsschule das Handwerk nicht „von der Picke auf“ und können daher wieder nur in großen Schuhindustrien im Ausland eingesetzt werden.
Und da wäre auch noch die gesundheitliche Frage im Kunden-End-Bereich zu berücksichtigen: Spreizfüße, Senkfüße, verkürzte Beine, nach einem Unfall etwa oder angeboren, brauchen das passende Schuhwerk – in Maßarbeit. Hier wird die Sache schon komplizierter. Schuhe anfertigen zu lassen ist gar nicht so einfach, denn derzeit gibt es im Burgenland nur fünf Orthopädieschuhmacher! Statt Massenware werden in handwerklichen Techniken Schuhe angeboten, die an die individuellen Bedürfnisse der Kundschaft angepasst sind. Tiefer in die Tasche greifen, um den Gesundheitszustand nachhaltig zu verbessern – oder doch Plastikschuhe, eine Alternative für schmale Kassen mit der Garantie für Bequemlichkeit und einer häufig ignorierten Nebenwirkung: dem beinahe unvermeidlichen JA zum Fußpilz und zum Fersensporn? Die Forderung nach Qualität gepaart mit Geiz ist in der Praxis nur sehr schwer zu vereinen.
Man stellt sich hier die Frage, wie sich die Schuhindustrie weiterentwickeln wird – ist den heimischen Schuhmachern noch zu helfen? Die Vorteile globalisierter Märkte lassen sich nicht von der Hand weisen. Sie bringen Chancen mit sich, auf die Großunternehmer nicht verzichten können und sollen. Ob die Verlagerung der Produktion ins Ausland wirklich der zielführendste Weg ist, ist bis dato noch immer unklar. Wäre nicht doch besser Qualität vor Quantität? Dringend notwendig wären Förderungen der heimischen Schuhhersteller bei der Aufnahme von Lehrlingen, bessere Ausbildungs-Angebote für Lehrlinge, eine bessere Unterstützung der Kunden mit Gesundheitsproblemen durch die Krankenversicherungsträger. In diesen Bereichen müsste sowohl politisch als auch medial reagiert werden, um dem vollkommenen Verschwinden der heimischen Schuhproduktion – einem Handwerk aus Meisterhand – entgegenwirken zu können.